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Donnerstag, 6. Juni 2013

ADHS... eine Modekrankheit?

Ein Artikel von ADHS-Deutschland.de 

Momentan wird in den Medien AD(H)S öfters als Modekrankheit dargestellt. Wie stehen Sie dazu?

Die ADHS ist keine Modeerkrankung. Sie ist eine seit Anfang des 20. Jahrhunderts gut beschriebene Verhaltensstörung. Selbst der Name „hyperkinetische Erkrankung“ oder „hyperkinetische Störung“, wie das in Deutschland gebräuchliche Diagnosemanual der Weltgesundheitsorganisation die ADHS bis heute nennt, stammt bereits aus den 1930er-Jahren. Selbst die medikamentöse Behandlung der ADHS setzte bereits Ende der 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts ein und ist seit den 1970er Jahren weltweit verbreitet. Das heutige Interesse an der ADHS ist die Folge einer veränderten Aufmerksamkeit für kindliche Verhaltensauffälligkeiten. Diese Veränderung hat mehrere Ursachen: ein größeres medizinisches Wissen über die ADHS; ein gesellschaftsweit gewachsenes Interesse an pädagogischen und psychologischen Themen; ein bewussteres Erziehungsverhalten der Eltern, aber auch eine größere Verunsicherung vieler Eltern, die heute nicht mehr den Erziehungsstil der vorangegangenen Generation einfach übernehmen; eine offenere, weniger autoritäre Schule, die zugleich bunter, lauter, chaotischer geworden ist; schließlich auch der Einfluss der modernen Medien, die Dauerberieselung durch Fernsehen und MP3-Player, die Ablenkung durch Computerspiele, Smartphones und Tablets.

Nicht zuletzt mag ein neues Bildungs- und Leistungsbewusstsein sowohl der Eltern als auch der Kinder und Jugendlichen selbst dazu beigetragen haben. Schule war früher ein überschaubares Pflichtprogramm, eingebettet in einen Familien- und Arbeitsalltag, der Kinder bereits früh in relevante Lebensbereiche einführte. Heute ist die Schule der Mittelpunkt der Kindheit und Jugend und für viele Kinder ihr zentraler Lebensinhalt. Vom Kindergarten bis zum Studium ist alles auf Förderung ausgerichtet. Daher ist es nicht nur für die Eltern, sondern auch für die meisten Kinder so wichtig geworden, in diese Systeme integriert und leistungsfähig zu sein. Schulversagen hat heute ganz andere Konsequenzen als noch vor 50 Jahren. Kinder von heute, die, warum auch immer, aus dem Bildungssystem herausfallen, haben nichts mehr, worin sie sich bewähren können, was sie nützlich und stolz sein ließe. Daher setzen die meisten Eltern alles daran, ihre Kinder in diesem System zu halten, nach Möglichkeit auf dem direkten Weg zum Akademiker. Umgekehrt geben sich viele Jugendliche rasch auf, wenn sie in der Schule versagen. Sie holen sich ihre Aufmerksamkeit über Verhaltensauffälligkeiten, lenken sich durch Medienkonsum, bisweilen auch Alkohol und Drogen vom Bewusstsein des eigenen Scheiterns ab. Eltern und Lehrer, ja bereits Erzieher im Kindergarten fürchten diese Entwicklung. Sie raten den Eltern bei den ersten Anzeichen von Auffälligkeit und Normabweichung, Erziehungsberatungsstellen, Psychologen und Ärzte aufzusuchen. Die ADHS ist eine von mehreren Diagnosen, in welche ein solcher Prozess dann rasch mündet, schneller als noch vor 30 Jahren, als man viele Probleme von und mit Kindern gelassener sah.

Aus Ihrer eigenen Erfahrung, werden Medikamente zu oft oder zu schnell verschrieben, oder eher zu spät und zu wenig?

Alles in allem denke ich, dass die medikamentöse Behandlung der ADHS in Deutschland in den meisten Fällen sachlich richtig und nach bestem Wissen und Gewissen der Ärzte erfolgt. Dennoch werden Medikamente bisweilen zu schnell, auf Grundlage fragwürdiger Diagnoseverfahren und ohne hinreichende Kontrolle ihrer Wirkung verordnet. Daneben gibt es stets auch Fälle, in denen eine absehbar hilfreiche medikamentöse Behandlung unterbleibt. Beide Fehlentwicklungen sind Effekte einer Inanspruchnahme-Medizin, in der nicht grundsätzlich auf die Stärken und Schwächen von Kindern geschaut wird, sondern eine Therapie nur derjenige erhält, der zu Therapeuten geschickt wird und dort auch ankommt. Berichten Eltern, Lehrer und Erzieher nur hartnäckig genug von einer Auffälligkeit des Kindes, wird dieses früher oder später eine Diagnose bekommen. Was sollen Ärzte und Psychologen auch anderes machen? Sie sind bei Verhaltensstörungen abhängig vom Bericht der Menschen, die mit dem Kind zusammenleben. Das unterscheidet die ADHS nicht vom Einnässen oder einer Schlafstörung, die auch nicht einfach in der Arztpraxis beobachtet werden können.

Wie kommt es bei Eltern zu der Vermutung dass ihr Kind eventuell AD(H)S haben könnte?

Die Wege sind so unterschiedlich wie die Informationen, die Eltern vor der Diagnose einer ADHS bei ihrem Kind vorliegen. Manche Eltern sind gut informiert. Sie lesen Erziehungsratgeber, schauen entsprechende Sendungen im Fernsehen an, informieren sich im Internet und tauschen sich mit anderen Eltern über ihre Kinder aus. Solche Eltern wissen meist schon das eine und andere über die ADHS. Sie beobachten ihre Kinder und finden diese in Beschreibungen von Symptomen der ADHS wieder. Dann fragen sie ihren Kinderarzt oder gehen direkt mit der Fragestellung, ob eine ADHS vorliegt, zu einem Psychologen oder Facharzt. Andere Eltern setzen sich weniger bewusst mit der Erziehung ihrer Kinder auseinander. Sie finden am Verhalten ihrer Kinder lange nichts auffällig, bis Lehrer oder Erzieher sich beschweren. In diesen Fällen erhalten Eltern oft den Rat, eine Erziehungsberatungsstelle, einen Arzt oder Psychotherapeuten mit dem Kind aufzusuchen. Dort erfahren sie dann von der Diagnose.

In beiden Fällen, ganz gleich, ob die Frage der ADHS von den Eltern selbst oder aber Dritten gestellt wird, macht es Sinn, sich kritisch mit der Diagnose auseinanderzusetzen. Letztlich können die meisten Kinder und Jugendlichen ihre Probleme oft nur schlecht benennen und in ihrer Bedeutung für den Familienalltag oder die Schulkarriere einschätzen. Hier sind die Eltern aufgefordert, sich Rechenschaft darüber abzulegen, ob das Verhalten des Kindes seinem Wesen entspricht und letztlich in allen Lebensbereichen Probleme mit sich bringt, oder aber das Problemverhalten erkennbare Ursachen in der aktuellen Lebenssituation des Kindes hat. Ein Kind sollte nicht mit einer psychiatrischen Diagnose versehen werden, nur weil seine Lebenswelt chaotisch und belastend ist, weil Unterricht und Klassenzimmer desorganisiert sind und der Alltag des Kindes vom Medienkonsum überreizt ist.

Wirken Eltern nach einer AD(H)S Diagnose erleichtert oder steigt die Sorge?

Das hängt von den Erwartungen der Eltern im Vorfeld sowie der Entwicklung des Kindes nach einer ADHS-Diagnose ab. Manche Eltern sind erleichtert, da für die Probleme in Schule und Familie nun ein Name und eine Ursache gefunden scheinen. Diese Erleichterung hält jedoch meist nicht lange an, denn die Therapie der ADHS, v.a. ihre medikamentöse Behandlung, unterstützt die Selbststeuerungsfähigkeit der Betroffenen, macht Erziehung und Anleitung im Alltag jedoch nicht weniger wichtig. Manches Problem in Familie, Schule und Freizeit hat zudem wenig mit der ADHS zu tun; es wird allenfalls verstärkt durch die Impulsivität, Unaufmerksamkeit und Unruhe der Betroffenen. Erhoffen sich Eltern von der Behandlung der ADHS zugleich eine umfassend leichtere Erziehbarkeit ihrer Kinder, eine mühelos gesteigerte schulische Leistungsfähigkeit und eine größere Einsicht des Nachwuchses in seine Schwierigkeiten, müssen sie enttäuscht werden. Die Behandlung der ADHS ist stets nur ein Anfang, der nicht selten eine bessere Grundlage für eine gute Entwicklung der Kinder schafft, doch eine gute Erziehung und Schule bleiben das A und O für eine zufriedene Kindheit und erfolgreiche Vorbereitung auf das Leben als Erwachsene.

Können Sie rückblickend feststellen, ob sich etwas im gesellschaftlichen Umgang mit AD(H)S verändert hat?

Ja sicher hat sich vieles verändert im gesellschaftlichen Umgang mit der ADHS. Wie oben bereits gesagt, hat die Bedeutung des schulischen Lernens in der Gruppe stark zugenommen. Impulsive, unruhige und in ihrer Willkürsteuerung der Aufmerksamkeit eingeschränkte Kinder tun sich viel schwerer, in den Klassenzimmern von heute zu lernen. Der Unterricht ist nicht mehr auf den Lehrer ausgerichtet, der Lärmpegel oft hoch, der Raum voller Ablenkungen. Lernmaterialien sind heute vielfach bunt und konfus aufgebaut. Der Medieneinsatz im Unterricht ist unsystematisch und ergänzt einen in der Freizeit gleichfalls unsystematischen Medienkonsum. Das alles macht ADHS-Kindern das Lernen in der Schule schwer. Schlimmer noch: Es bringt ihre Defizite erst richtig zum Vorschein. Moderne Schulen sind viel zu groß, Stundenplan und Raumaufteilung sind wirr, es gibt häufige Lehrerwechsel und Ausfallstunden. Die Schulwege sind oft schon im Grundschulalter weit, zu den Sonderschulen für auffällige Kinder noch weiter. Das Chaos vieler Nachmittagsbetreuungen in Hort und Tagesstätten ist für ADHS-Kinder Stress pur. Dennoch empfehlen Jugendämter gerade Eltern solcher Kinder Ganztagsschulen und heilpädagogische Nachmittagsangebote, deren Vollzeit-Gruppenzwang die Kinder ohne Rückzugsmöglichkeit mit Reizen überlastet. Auch Berufsausbildung und Studium werden immer mehr verschult. Die Dauerbetreuung stiehlt die Zeit zum freien Spielen, sie lähmt die Kreativität, behindert das Eigeninteresse, kappt Leidenschaften und drängt all jene gesellschaftlich an den Rand, welche diese Vollzeitanpassung an die Dauergemeinschaft aus eigenen Kräften nicht leisten können.

Die familiäre Situation ist oft nicht besser. In Städten wie München mit ihren irrsinnigen Lebenshaltungskosten müssen selbst Akademiker-Eltern beide ganztags arbeiten gehen, um eine Familie angemessen zu versorgen. Kinder müssen in diesem an den Arbeitsbedingungen der Eltern ausgerichteten System funktionieren, sonst kommt das Familienleben aus dem Takt. Das Abenteuer der Kindheit, in dem ADHS-Betroffene früher die Rolle der Entdecker, der Mutigen und Wilden übernahmen, die durchaus positiv besetzt war, ist von Aufsichtspflichten und Haftungsfragen unterlaufen worden. Früher mussten Kinder und Jugendliche ihre Aufgaben in Haus und Hof erfüllen. Ansonsten konnten sie Lausbuben sein und die Vernunft den Erwachsenen überlassen, wuchsen sie doch ohnehin in eine vorgegebene Welt von Arbeit, Kirche und eigener Familie hinein, die bereits einen Platz für sie reserviert hatte. Das war beileibe nicht immer schön und wünschenswert, brachte jedoch eine Absehbarkeit und Sicherheit mit sich, die vielen Familien heute abgeht. Der Druck auf die Eltern ist gewachsen, ihre Kinder auf eine ungewisse Zukunft vorzubereiten. Auf diesem Weg versuchen die Eltern alles auszuräumen, was hinderlich ist. Sind es die Impulsivität, die Unaufmerksamkeit und Unruhe der Kinder, dann werden diese behandelt, kann man doch weder Schule noch Arbeitswelt beliebig gestalten. Daher ist die ADHS heute so bedeutsam geworden: Sie ist eine der wenigen Schrauben des Lebens, an denen Eltern und Kinder selbst drehen können.

Glauben Sie dass es Druck auf Ärzte gibt – entweder von Seiten der Pharmakonzerne oder von den Krankenkasse – Medikamente statt Therapien zu verschreiben?

Nein, das glaube ich nicht. Die Ärzte haben von der Verordnung von Tabletten zur Behandlung der ADHS nichts. Verdächtigt man die Pharmaindustrie aufgrund der steigenden Verordnungszahlen, sie würde Ärzte zur Medikation der ADHS animieren, so müsste man diesen Verdacht ungleich stärker gegenüber Ergo- und Psychotherapeuten hegen, denn die bekommen ein Mehrfaches der Mittel, welche die Krankenkassen zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit ADHS ausgeben. Doch auch die Krankenkassen selbst sehen die Medikation nicht als billige Standardtherapie, wie der Arztreport 2013 der BARMER GEK zeigt. Gerade von Fachleuten werden Kosten, Gewinn und Risiken der Medikation weitaus differenzierter gesehen als in den Medien dargestellt.

Glauben Sie, dass sozio-ökonomische Faktoren bei AD(H)S eine wichtige Rolle spielen (geschiedene Eltern die ganztags arbeiten müssen, wenn ein Kind mehr vor dem Bildschirm sitzt als wie es draußen spielt etc.)?

In der Verursachung der ADHS spielen sozioökonomische Faktoren keine Rolle. Allerdings gibt es schichtspezifische Einflüsse auf die von den Eltern angestrebte Diagnostik sowie die Auswahl der Therapieoptionen. Zum einen informieren sich gebildete Eltern eigenständig über pädagogische und medizinische Belange, was heute über das Internet leicht möglich ist. Dabei stoßen sie zwangsläufig auch auf viele ADHS-kritische Publikationen und hinterfragen irritiert die Empfehlungen von Ärzten, Psychologen, Lehrern und Erziehern. Das ist gut so, führt aber auch zu vielen Ängsten aufgrund falscher Informationen. Zum andern begleiten Eltern aus der bildungsbürgerlichen Schicht die Entwicklung ihrer Kinder oft aufmerksamer. Studienergebnisse sprechen für eine hohe Zahl an ADHS-Diagnosen und zunächst eingeleiteten medikamentösen Behandlungen, die bald wieder abgebrochen werden, weil die Erwartungen der Eltern an die Behandlung nicht umgehend erfüllt werden. Weniger gebildete und vermehrt autoritätsgläubige Eltern aus bildungsferneren Schichten akzeptieren vorgeschlagene Behandlungsformen eher und setzen diese fort, solange die Fachleute sie für sinnvoll erachten. Das geschieht, da sie häufig einem stärkeren sozialen Druck von Lehrern und Erziehern ausgesetzt sind. Ihnen legt man in Kindergarten und Schule schneller nahe, mit dem fraglich verhaltensauffälligen Kind zum Psychologen oder Arzt zu gehen, da das Vertrauen in die erzieherischen Kompetenzen dieser Eltern geringer ist. Also hofft manch Mitarbeiter in Schulen und Nachmittagsbetreuung, dass eine direkte Behandlung des Kindes mehr bringt als eine Intervention in der Familie.

Johannes Streif

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