Momentan wird in den Medien AD(H)S öfters als Modekrankheit dargestellt. Wie stehen Sie dazu?
Die ADHS ist keine Modeerkrankung. Sie ist eine seit Anfang des 20.
Jahrhunderts gut beschriebene Verhaltensstörung. Selbst der Name
„hyperkinetische Erkrankung“ oder „hyperkinetische Störung“, wie das in
Deutschland gebräuchliche Diagnosemanual der Weltgesundheitsorganisation
die ADHS bis heute nennt, stammt bereits aus den 1930er-Jahren. Selbst
die medikamentöse Behandlung der ADHS setzte bereits Ende der 30er Jahre
des vorigen Jahrhunderts ein und ist seit den 1970er Jahren weltweit
verbreitet. Das heutige Interesse an der ADHS ist die Folge einer
veränderten Aufmerksamkeit für kindliche Verhaltensauffälligkeiten.
Diese Veränderung hat mehrere Ursachen: ein größeres medizinisches
Wissen über die ADHS; ein gesellschaftsweit gewachsenes Interesse an
pädagogischen und psychologischen Themen; ein bewussteres
Erziehungsverhalten der Eltern, aber auch eine größere Verunsicherung
vieler Eltern, die heute nicht mehr den Erziehungsstil der
vorangegangenen Generation einfach übernehmen; eine offenere, weniger
autoritäre Schule, die zugleich bunter, lauter, chaotischer geworden
ist; schließlich auch der Einfluss der modernen Medien, die
Dauerberieselung durch Fernsehen und MP3-Player, die Ablenkung durch
Computerspiele, Smartphones und Tablets.
Nicht zuletzt mag ein
neues Bildungs- und Leistungsbewusstsein sowohl der Eltern als auch der
Kinder und Jugendlichen selbst dazu beigetragen haben. Schule war früher
ein überschaubares Pflichtprogramm, eingebettet in einen Familien- und
Arbeitsalltag, der Kinder bereits früh in relevante Lebensbereiche
einführte. Heute ist die Schule der Mittelpunkt der Kindheit und Jugend
und für viele Kinder ihr zentraler Lebensinhalt. Vom Kindergarten bis
zum Studium ist alles auf Förderung ausgerichtet. Daher ist es nicht nur
für die Eltern, sondern auch für die meisten Kinder so wichtig
geworden, in diese Systeme integriert und leistungsfähig zu sein.
Schulversagen hat heute ganz andere Konsequenzen als noch vor 50 Jahren.
Kinder von heute, die, warum auch immer, aus dem Bildungssystem
herausfallen, haben nichts mehr, worin sie sich bewähren können, was sie
nützlich und stolz sein ließe. Daher setzen die meisten Eltern alles
daran, ihre Kinder in diesem System zu halten, nach Möglichkeit auf dem
direkten Weg zum Akademiker. Umgekehrt geben sich viele Jugendliche
rasch auf, wenn sie in der Schule versagen. Sie holen sich ihre
Aufmerksamkeit über Verhaltensauffälligkeiten, lenken sich durch
Medienkonsum, bisweilen auch Alkohol und Drogen vom Bewusstsein des
eigenen Scheiterns ab. Eltern und Lehrer, ja bereits Erzieher im
Kindergarten fürchten diese Entwicklung. Sie raten den Eltern bei den
ersten Anzeichen von Auffälligkeit und Normabweichung,
Erziehungsberatungsstellen, Psychologen und Ärzte aufzusuchen. Die ADHS
ist eine von mehreren Diagnosen, in welche ein solcher Prozess dann
rasch mündet, schneller als noch vor 30 Jahren, als man viele Probleme
von und mit Kindern gelassener sah.
Aus Ihrer eigenen Erfahrung, werden Medikamente zu oft oder zu schnell verschrieben, oder eher zu spät und zu wenig?
Alles in allem denke ich, dass die medikamentöse Behandlung der ADHS in
Deutschland in den meisten Fällen sachlich richtig und nach bestem
Wissen und Gewissen der Ärzte erfolgt. Dennoch werden Medikamente
bisweilen zu schnell, auf Grundlage fragwürdiger Diagnoseverfahren und
ohne hinreichende Kontrolle ihrer Wirkung verordnet. Daneben gibt es
stets auch Fälle, in denen eine absehbar hilfreiche medikamentöse
Behandlung unterbleibt. Beide Fehlentwicklungen sind Effekte einer
Inanspruchnahme-Medizin, in der nicht grundsätzlich auf die Stärken und
Schwächen von Kindern geschaut wird, sondern eine Therapie nur derjenige
erhält, der zu Therapeuten geschickt wird und dort auch ankommt.
Berichten Eltern, Lehrer und Erzieher nur hartnäckig genug von einer
Auffälligkeit des Kindes, wird dieses früher oder später eine Diagnose
bekommen. Was sollen Ärzte und Psychologen auch anderes machen? Sie sind
bei Verhaltensstörungen abhängig vom Bericht der Menschen, die mit dem
Kind zusammenleben. Das unterscheidet die ADHS nicht vom Einnässen oder
einer Schlafstörung, die auch nicht einfach in der Arztpraxis beobachtet
werden können.
Wie kommt es bei Eltern zu der Vermutung dass ihr Kind eventuell AD(H)S haben könnte?
Die Wege sind so unterschiedlich wie die Informationen, die Eltern vor
der Diagnose einer ADHS bei ihrem Kind vorliegen. Manche Eltern sind gut
informiert. Sie lesen Erziehungsratgeber, schauen entsprechende
Sendungen im Fernsehen an, informieren sich im Internet und tauschen
sich mit anderen Eltern über ihre Kinder aus. Solche Eltern wissen meist
schon das eine und andere über die ADHS. Sie beobachten ihre Kinder und
finden diese in Beschreibungen von Symptomen der ADHS wieder. Dann
fragen sie ihren Kinderarzt oder gehen direkt mit der Fragestellung, ob
eine ADHS vorliegt, zu einem Psychologen oder Facharzt. Andere Eltern
setzen sich weniger bewusst mit der Erziehung ihrer Kinder auseinander.
Sie finden am Verhalten ihrer Kinder lange nichts auffällig, bis Lehrer
oder Erzieher sich beschweren. In diesen Fällen erhalten Eltern oft den
Rat, eine Erziehungsberatungsstelle, einen Arzt oder Psychotherapeuten
mit dem Kind aufzusuchen. Dort erfahren sie dann von der Diagnose.
In beiden Fällen, ganz gleich, ob die Frage der ADHS von den Eltern
selbst oder aber Dritten gestellt wird, macht es Sinn, sich kritisch mit
der Diagnose auseinanderzusetzen. Letztlich können die meisten Kinder
und Jugendlichen ihre Probleme oft nur schlecht benennen und in ihrer
Bedeutung für den Familienalltag oder die Schulkarriere einschätzen.
Hier sind die Eltern aufgefordert, sich Rechenschaft darüber abzulegen,
ob das Verhalten des Kindes seinem Wesen entspricht und letztlich in
allen Lebensbereichen Probleme mit sich bringt, oder aber das
Problemverhalten erkennbare Ursachen in der aktuellen Lebenssituation
des Kindes hat. Ein Kind sollte nicht mit einer psychiatrischen Diagnose
versehen werden, nur weil seine Lebenswelt chaotisch und belastend ist,
weil Unterricht und Klassenzimmer desorganisiert sind und der Alltag
des Kindes vom Medienkonsum überreizt ist.
Wirken Eltern nach einer AD(H)S Diagnose erleichtert oder steigt die Sorge?
Das hängt von den Erwartungen der Eltern im Vorfeld sowie der
Entwicklung des Kindes nach einer ADHS-Diagnose ab. Manche Eltern sind
erleichtert, da für die Probleme in Schule und Familie nun ein Name und
eine Ursache gefunden scheinen. Diese Erleichterung hält jedoch meist
nicht lange an, denn die Therapie der ADHS, v.a. ihre medikamentöse
Behandlung, unterstützt die Selbststeuerungsfähigkeit der Betroffenen,
macht Erziehung und Anleitung im Alltag jedoch nicht weniger wichtig.
Manches Problem in Familie, Schule und Freizeit hat zudem wenig mit der
ADHS zu tun; es wird allenfalls verstärkt durch die Impulsivität,
Unaufmerksamkeit und Unruhe der Betroffenen. Erhoffen sich Eltern von
der Behandlung der ADHS zugleich eine umfassend leichtere Erziehbarkeit
ihrer Kinder, eine mühelos gesteigerte schulische Leistungsfähigkeit und
eine größere Einsicht des Nachwuchses in seine Schwierigkeiten, müssen
sie enttäuscht werden. Die Behandlung der ADHS ist stets nur ein Anfang,
der nicht selten eine bessere Grundlage für eine gute Entwicklung der
Kinder schafft, doch eine gute Erziehung und Schule bleiben das A und O
für eine zufriedene Kindheit und erfolgreiche Vorbereitung auf das Leben
als Erwachsene.
Können Sie rückblickend feststellen, ob sich etwas im gesellschaftlichen Umgang mit AD(H)S verändert hat?
Ja sicher hat sich vieles verändert im gesellschaftlichen Umgang mit
der ADHS. Wie oben bereits gesagt, hat die Bedeutung des schulischen
Lernens in der Gruppe stark zugenommen. Impulsive, unruhige und in ihrer
Willkürsteuerung der Aufmerksamkeit eingeschränkte Kinder tun sich viel
schwerer, in den Klassenzimmern von heute zu lernen. Der Unterricht ist
nicht mehr auf den Lehrer ausgerichtet, der Lärmpegel oft hoch, der
Raum voller Ablenkungen. Lernmaterialien sind heute vielfach bunt und
konfus aufgebaut. Der Medieneinsatz im Unterricht ist unsystematisch und
ergänzt einen in der Freizeit gleichfalls unsystematischen
Medienkonsum. Das alles macht ADHS-Kindern das Lernen in der Schule
schwer. Schlimmer noch: Es bringt ihre Defizite erst richtig zum
Vorschein. Moderne Schulen sind viel zu groß, Stundenplan und
Raumaufteilung sind wirr, es gibt häufige Lehrerwechsel und
Ausfallstunden. Die Schulwege sind oft schon im Grundschulalter weit, zu
den Sonderschulen für auffällige Kinder noch weiter. Das Chaos vieler
Nachmittagsbetreuungen in Hort und Tagesstätten ist für ADHS-Kinder
Stress pur. Dennoch empfehlen Jugendämter gerade Eltern solcher Kinder
Ganztagsschulen und heilpädagogische Nachmittagsangebote, deren
Vollzeit-Gruppenzwang die Kinder ohne Rückzugsmöglichkeit mit Reizen
überlastet. Auch Berufsausbildung und Studium werden immer mehr
verschult. Die Dauerbetreuung stiehlt die Zeit zum freien Spielen, sie
lähmt die Kreativität, behindert das Eigeninteresse, kappt
Leidenschaften und drängt all jene gesellschaftlich an den Rand, welche
diese Vollzeitanpassung an die Dauergemeinschaft aus eigenen Kräften
nicht leisten können.
Die familiäre Situation ist oft nicht
besser. In Städten wie München mit ihren irrsinnigen
Lebenshaltungskosten müssen selbst Akademiker-Eltern beide ganztags
arbeiten gehen, um eine Familie angemessen zu versorgen. Kinder müssen
in diesem an den Arbeitsbedingungen der Eltern ausgerichteten System
funktionieren, sonst kommt das Familienleben aus dem Takt. Das Abenteuer
der Kindheit, in dem ADHS-Betroffene früher die Rolle der Entdecker,
der Mutigen und Wilden übernahmen, die durchaus positiv besetzt war, ist
von Aufsichtspflichten und Haftungsfragen unterlaufen worden. Früher
mussten Kinder und Jugendliche ihre Aufgaben in Haus und Hof erfüllen.
Ansonsten konnten sie Lausbuben sein und die Vernunft den Erwachsenen
überlassen, wuchsen sie doch ohnehin in eine vorgegebene Welt von
Arbeit, Kirche und eigener Familie hinein, die bereits einen Platz für
sie reserviert hatte. Das war beileibe nicht immer schön und
wünschenswert, brachte jedoch eine Absehbarkeit und Sicherheit mit sich,
die vielen Familien heute abgeht. Der Druck auf die Eltern ist
gewachsen, ihre Kinder auf eine ungewisse Zukunft vorzubereiten. Auf
diesem Weg versuchen die Eltern alles auszuräumen, was hinderlich ist.
Sind es die Impulsivität, die Unaufmerksamkeit und Unruhe der Kinder,
dann werden diese behandelt, kann man doch weder Schule noch Arbeitswelt
beliebig gestalten. Daher ist die ADHS heute so bedeutsam geworden: Sie
ist eine der wenigen Schrauben des Lebens, an denen Eltern und Kinder
selbst drehen können.
Glauben Sie dass es Druck auf Ärzte gibt –
entweder von Seiten der Pharmakonzerne oder von den Krankenkasse –
Medikamente statt Therapien zu verschreiben?
Nein, das glaube
ich nicht. Die Ärzte haben von der Verordnung von Tabletten zur
Behandlung der ADHS nichts. Verdächtigt man die Pharmaindustrie aufgrund
der steigenden Verordnungszahlen, sie würde Ärzte zur Medikation der
ADHS animieren, so müsste man diesen Verdacht ungleich stärker gegenüber
Ergo- und Psychotherapeuten hegen, denn die bekommen ein Mehrfaches der
Mittel, welche die Krankenkassen zur Behandlung von Kindern und
Jugendlichen mit ADHS ausgeben. Doch auch die Krankenkassen selbst sehen
die Medikation nicht als billige Standardtherapie, wie der Arztreport
2013 der BARMER GEK zeigt. Gerade von Fachleuten werden Kosten, Gewinn
und Risiken der Medikation weitaus differenzierter gesehen als in den
Medien dargestellt.
Glauben Sie, dass sozio-ökonomische
Faktoren bei AD(H)S eine wichtige Rolle spielen (geschiedene Eltern die
ganztags arbeiten müssen, wenn ein Kind mehr vor dem Bildschirm sitzt
als wie es draußen spielt etc.)?
In der Verursachung der ADHS
spielen sozioökonomische Faktoren keine Rolle. Allerdings gibt es
schichtspezifische Einflüsse auf die von den Eltern angestrebte
Diagnostik sowie die Auswahl der Therapieoptionen. Zum einen informieren
sich gebildete Eltern eigenständig über pädagogische und medizinische
Belange, was heute über das Internet leicht möglich ist. Dabei stoßen
sie zwangsläufig auch auf viele ADHS-kritische Publikationen und
hinterfragen irritiert die Empfehlungen von Ärzten, Psychologen, Lehrern
und Erziehern. Das ist gut so, führt aber auch zu vielen Ängsten
aufgrund falscher Informationen. Zum andern begleiten Eltern aus der
bildungsbürgerlichen Schicht die Entwicklung ihrer Kinder oft
aufmerksamer. Studienergebnisse sprechen für eine hohe Zahl an
ADHS-Diagnosen und zunächst eingeleiteten medikamentösen Behandlungen,
die bald wieder abgebrochen werden, weil die Erwartungen der Eltern an
die Behandlung nicht umgehend erfüllt werden. Weniger gebildete und
vermehrt autoritätsgläubige Eltern aus bildungsferneren Schichten
akzeptieren vorgeschlagene Behandlungsformen eher und setzen diese fort,
solange die Fachleute sie für sinnvoll erachten. Das geschieht, da sie
häufig einem stärkeren sozialen Druck von Lehrern und Erziehern
ausgesetzt sind. Ihnen legt man in Kindergarten und Schule schneller
nahe, mit dem fraglich verhaltensauffälligen Kind zum Psychologen oder
Arzt zu gehen, da das Vertrauen in die erzieherischen Kompetenzen dieser
Eltern geringer ist. Also hofft manch Mitarbeiter in Schulen und
Nachmittagsbetreuung, dass eine direkte Behandlung des Kindes mehr
bringt als eine Intervention in der Familie.
Johannes Streif
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